ÜberwachungsgesamtrechnungEs geht bald los – hoffentlich

Offiziell soll es morgen mit der Überwachungsgesamtrechnung losgehen. Doch noch ist der Auftrag nicht vergeben, der geplante Starttermin ist nicht zu halten. Es wird knapp für das anspruchsvolle Projekt, das als Schubladenfüller zu enden droht.

Ein fehlendes Puzzleteil wird von einer Hand eingefügt
Welches Bild ergibt sich, wenn man alle Überwachungsbefugnisse zusammen betrachtet? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Edge2Edge Media

Am Freitag ist der erste Dezember. Damit öffnet sich nicht nur das erste Türchen des Adventskalenders, es geht auch die Arbeit an der Überwachungsgesamtrechnung los. Eigentlich. So steht es zumindest in der Ausschreibung für das Großprojekt von der beiden Bundesministerien für Inneres und Justiz. Doch bis heute wurde der Auftrag nicht vergeben.

Das bestätigt auf Nachfrage eine Sprecherin des Innenministeriums: „Das Vergabeverfahren dauert an“, schreibt sie. Weitere inhaltliche Informationen könnten daher nicht „bereitgestellt werden“.

Bereits im Mai hatte das Beschaffungsamt des Innenministeriums die europaweite Ausschreibung gestartet. „Beginn: 01/12/2023“ steht dort. Und selbst damit lag man bereits hinter dem ursprünglichen Zeitplan aus dem Koalitionsvertrag. Darin hatten sich SPD, Grüne und FDP vorgenommen, eine Überwachungsgesamtrechnung sowie bis Ende 2023 eine „unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Auswirkungen“ durchführen zu lassen.

Das Ganze kann mehr sein als die Summe der Teile

Es geht im Kern darum, dass sich viele Gesetze auf unsere Freiheit auswirken und in Grundrechte eingreifen. Sie lassen sich aber nicht isoliert beurteilen. Und am Ende zählt nicht nur der Gesetzestext, sondern auch, wie etwa Polizeibehörden in der Praxis mit den Befugnissen umgehen. Kommen Funkzellenabfragen selten und gezielt vor? Oder sind sie zur Standardermittlungsmaßnahme geworden? Ist es überhaupt noch möglich, sich unüberwacht zu bewegen, wenn man all die Möglichkeiten zur Überwachung in der Gesamtschau betrachtet?

Die Aufgabe ist riesig, zahllose Gesetze greifen mal mehr, mal weniger in unsere Rechte ein. Nur ein Jahr Zeit hat das Forschungsteam, das am Ende den Zuschlag bekommen wird. Die Ausschreibung selbst begrenzt daher das, was sich die Forschenden anschauen sollen. Eine pragmatisch notwendige Einschränkung. Aber eine, die auch die Aussagekraft des Ergebnisses einschränken wird.

Fast noch wichtiger als eine Überwachungsgesamtrechnung ist es jedoch, sie danach auch zu nutzen. Sonst bliebe sie kaum mehr als ein vermutlich hunderte Seiten schweres Papier, das eine Momentaufnahme versucht. Das haben auch die Regierungsparteien erkannt, sie wollen ein unabhängiges Gremium mit dem Namen „Freiheitskommission“ gründen, das bei neuen Sicherheitsgesetzen ins Spiel kommt.

Kippt die Wippe?

Dabei geht es etwa um die Frage: Wie fügt sich ein neuer geplanter Eingriff ins Gesamtbild der Freiheitsrechte ein? Kippt am Ende die Wippe? Steht der Eingriff in einem vertretbaren Verhältnis zu seiner Wirkung? Braucht es Einschränkungen oder neue Kontrollen?

Je weiter sich sowohl die Überwachungsgesamtrechnung als auch die Einrichtung einer Freiheitskommission verzögern, desto größer wird die Gefahr, dass die Analyse zu einem Papiertiger wird. Nicht einmal mehr zwei Jahre dauert die aktuelle Legislaturperiode noch. Je weiter sie voranschreitet, desto mehr Gesetze sind bereits erlassen. Ein Moratorium für neue Sicherheitsgesetze, bis der Überblick fertig ist, gab sich die Regierung nicht. Und was eine Nachfolgeregierung mit der Erhebung tun wird und ob sie schlichtweg in der Schublade landet, ist ungewiss.

Das Bundesinnenministerium gibt sich indes für den aktuellen Zeitplan optimistisch: „Vorbehaltlich des weiteren Verfahrensablaufs rechnen das Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie das Bundesministerium der Justiz weiterhin damit, dass der Zuschlag bis zum Ende des Jahres 2023 erteilt werden kann“, schreibt eine Sprecherin.

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3 Ergänzungen

  1. „‚… sie wollen ein unabhängiges Gremium mit dem Namen „Freiheitskommission“ gründen, …“

    Der Satz sagt alles über die derzeitigen Verhältnisse aus.

    Wenn eine Regierung schon eine „Freiheitskommission“ gründen muss, beweist, das, dass „Freiheit“ offensichtlich aus deren Sicht nicht mehr ein Grundrecht und damit selbstverständlich ist.

  2. Was man hier lernen kann (nach Lektüre der oben verlinkten Ausschreibung) ist, wie sich das BMI (Bundesministerium es Inneren) Expertise beschafft. Ja das wird als Beschaffungsvorgang betrieben, was Ausschreibung und Auftragserteilung bedeutet. Ein höchst selektiver Vorgang also, weitab öffentlicher Diskurse. Kann damit auch nur näherungsweise Objektivität gewährleistet werden?

    II.1.4) Kurze Beschreibung:
    Durchführung der Überwachungsgesamtrechnung einschließlich der wissenschaftlichen Evaluation der Überwachungsbefugnisse.

    II.1.5) Geschätzter Gesamtwert

    II.1.6) Angaben zu den Losen
    Aufteilung des Auftrags in Lose: nein

    Ich lese das so: Der Auftrag soll an einen einzelnen Auftraggeber mit sozialwissenschaftlichen Fähigkeiten erteilt werden, wobei ein geschätzter Gesamtwert nicht genannt wird.

    Bleibt die Frage, wer kann das und wer ist dazu zur diesen Bedingungen bereit?
    Ich kann es mir kaum vorstellen, dass so eine Ausschreibung einfach nur so ins Fenster gehängt wird, ohne dass es vorher „Gespräche“ gegeben hat.

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